Vorwort aus dem Jahr 2024: In der Corona-Pandemie, 2020, habe ich einen Blog angefangen, mit dem Titel: “Anno, geboren 2520”. Darin schrieb ich Briefe an einen Urenkel in 500 Jahren und versuchte, ihm zu erklären, was für absurde Dinge die Menschen zur Gegenwart taten und warum. Mehrere Monate habe ich jede Woche einen neuen Artikel verfasst. Zum Schluss habe ich den Blog wieder aufgegeben. Die rechten und verschwörerischen Schreihälse waren zu laut, meine Ohren bald taub, die Nerven malträtiert. Übrig geblieben ist dieser Anfangstext: Ein Brief, den ich an meinen Urenkel geschrieben habe, der 500 Jahre später zur Welt kommen könnte. Diesen Brief möchte ich der Nachwelt gerne erhalten. Denn er ist nach wie vor von Bedeutung.
Lieber Anno, Du bist der erste meiner Nachkommen, der im 26. Jahrhundert geboren wird. Natürlich bin ich kein Hellseher, kann nicht in die Zukunft schauen. Ich weiß nicht, ob Du wirklich geboren und ob Du wirklich so heißen wirst. Aber ich stelle es mir vor, dass es Dich geben wird. Denn der Gedanke tröstet mich. Er lässt mich an eine Zukunft glauben. Eine Zukunft, für die auch ich Verantwortung trage, weil all das, was ich tue, sie beeinflussen wird. Daher wünsche ich es mir, dass es Dich geben wird, Anno, weil der Gedanke, dass ich dazu beitragen kann, dass die verdammte Scheiße, die gerade abläuft, irgendwann einmal auch gut werden wird, meinen Kummer befriedet.
Wenn alle meine Nachkommen im Alter von durchschnittlich 35 Jahren ein Kind bekommen werden, dann wirst Du, Anno, in der 14. Generation nach mir das Licht der Welt erblicken – genau 500 Jahre nach meiner Idee, Dir zu schreiben, also im Jahr 2520. Du bist mein:
Ur-, Ur-, Ur-, Ur-, Ur-, Ur-, Ur-, Ur-, Ur-, Ur-, Ur-, Urenkel.
Das Jahr 2520 klingt weit weg von uns, es ist eine weit entfernte Zukunft. Ein Gefühl dafür, wie weit das weg ist, bekommt derjenige, der 500 Jahre zurückblickt auf das Jahr 1520: Das Mittelalter geht in Europa zu Ende und die Renaissance steht vor der Tür. Nur etwa 440 Millionen Menschen lebten damals auf der Erde.
1507 taucht der Name Amerika das erste Mal auf einer Weltkarte auf. Martin Luther schlägt 1517 seine Thesen an die Kirchentür in Wittenberg. Das Kopernikanische Weltbild setzt sich durch – vorher noch glaubten die Menschen, die Sonne drehe sich um die Erde. In drei ganzen Jahren, 1519 bis 1522, umsegelt Ferdinand Magellan als erster Mensch die Erde. Bauern lehnen sich gegen Fürsten auf und beginnen einen Krieg. 1540 wütet die schlimmste Dürre der vergangenen zwei Jahrtausende: Elf Monate lang regnet es keinen Tropfen in Europa. Ernten fallen aus, Hunderttausende verhungern.
Impfungen werden erst 300 Jahre später erfunden und Antibiotika erst 400 Jahre später. Vor 500 Jahren erreicht die Hälfte der Kinder das Erwachsenenalter nicht und die Lebenserwartung derer, die robust oder behütet genug sind, die gefährliche Kindheit überstehen, beträgt – je nach Stand – zwischen 55 und 72 Jahre.
Das Leben der damaligen Menschheit ist mit dem heutigen kaum zu vergleichen. Ein Mensch, der eine Zeitreise aus dem 16. in das 21. Jahrhundert unternehmen würde, könnte nicht anders als an Magie und Hexerei glauben. Mediziner können auf wundersame Weise Krankheiten heilen, für die das Mittelalter noch gar keinen Namen kannte. Dank flacher, leuchtender Scheiben kann jeder Mensch mit jedem anderen Menschen auf der Erde nicht bloß sprechen, sondern ihn auch sehen. Und mit dem Tippen eines Fingers kann er einen Moment in Sekundenschnelle für immer festhalten.
Und wem das Sprechen nicht reicht, der setzt sich in ein Fluggerät und landet nicht einmal einen Tag später auf der anderen Seite der Erdkugel – nein, surprise, sie ist nicht flach. Vor 500 Jahren dauerte das noch Jahre, um den Globus zu umrunden – sofern man überhaupt ankam.
So rückständig, wie mir das Jahr 1520 vorkommt, so rückständig muss für Dich, Anno, das Jahr 2020 sein, meine Gegenwart. Ich frage mich, wie es sich für Dich anfühlen muss, wenn Du Dich damit beschäftigst. Ob Du Dich fragst, wie es überhaupt möglich war für mich, zu überleben – angesichts der mittelalterlichen Medizin, die Menschen noch aufschneiden muss, des zügellosen Hasses, den Menschen auf Mitmenschen grundlos haben, und der zerstörerischen Kriege um Ressourcen, die Dir längst nicht mehr zur Verfügung stehen? Und dann sind da noch die sozialen Medien, die in ihren Kinderschuhen stecken, von denen niemand sagen kann, wie schädlich sie für die Menschheit sind – vielleicht sogar tödlicher als das Coronavirus, das die Welt in Schockstarre versetzt? Du, Anno, wirst wohl die Antwort kennen.
Wir erleben dieses Jahr als historisch, weil wir dies noch nicht erlebt haben, dass ein Virus schier unaufhaltsam über den Globus rollt, Menschen verängstigt und Gesellschaften spaltet, ein Jahr, das aus Deiner Zukunft betrachtet wohl aber nur eines von so vielen historischen Jahren sein wird, im Vergleich mit dem, was danach kommt, vielleicht sogar unbedeutend, nicht mehr als eine Randnotiz in einer Enzyklopädie (gibt es noch die Wikipedia?), weil die Menschen in Deiner Zeit natürlich ihre eigenen, berechtigten Probleme haben werden, mit denen sie sich dringender beschäftigen müssen als mit den Problemen längst vergangener Menschen, aus deren Fehler sie möglicherweise auch etwas lernen könnten, aber Du weißt, wie es ist: Jeder will seine eigenen Erfahrungen machen. Doch wie, lieber Anno, wirst Du über die Zeit denken, in der ich lebe? Wie wirst Du über mein Leben denken? Es gibt kaum etwas, das für mich spannender ist, als dieses Gedankenspiel.
Was wird in den Geschichtsbüchern des Jahres 2520 stehen, von Historikern über die Vergangenheit geschrieben, in der ich einst gelebt haben werde? Wie wird sich die Welt verändert haben in 500 Jahren?
Ich weiß es nicht. Ich sehe es nicht. Denn für die Zukunft bin ich blind.
Wie soll das möglich sein, sich die Welt im Jahr 2520 vorzustellen? Der Wandel, der sich in den vergangenen 100 Jahren vollzogen hat – eine Explosion an wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen – legt jedenfalls nahe, dass die Menschen im Jahr 2520 dasselbe über das 21. Jahrhundert sagen werden, wie wir über das 16.: “Das Leben der damaligen Menschheit ist mit dem heutigen kaum zu vergleichen.”
Anno, wie Deine Welt aussehen mag, übersteigt meine Vorstellungskraft. So vieles ist denkbar.
Es kann sein, dass die Erkenntnisse und Erfahrungen der Menschheit so fortschreiten, dass Du aus einer technisch und geistig hoch entwickelten Gesellschaft zurückblickst auf eine gar grausam tödliche und degenerierte Welt, überfüllt mit depressiven und traumatisierten Menschen.
Es ist aber auch denkbar, dass die Menschheit die Kontrolle über den Fortschritt verliert und dieser die Menschheit überholt. Übernimmt künstliche Intelligenz bald unsere Mündigkeit als Individuum – mit dem Recht Fehler zu begehen – oder stürzen wir die Welt vorher noch in einen nuklear verseuchten Alptraum, in dem der Großteil der Welt für das, was wir als lebenswertes Leben betrachten, unbewohnbar wird?
Wirst Du in Deinem Geschichtsbuch lesen, dass es einmal die Europäische Union gab, die für eine kurze Zeit des Wohlstands, der Demokratie, des Friedens und der wissenschaftlichen und humanistischen Durchbrüche in Europa sorgte – so wie wir von der griechischen Antike oder vom florierenden Florenz lesen?
1993 gegründet und – wer kann das schon wissen – gute 200 Jahre später schon wieder zerbrochen, weil die Europäer ihre eigene Union, deren höchstes Gut die Menschenrechte waren, bis ins Letzte hassten und aufgrund kleinstaatlicher Egoismen das am seidenen Faden zusammenhängende Finanzsystem zugrunde richteten?
Wirst Du auf diese Zeit zurückblicken und vielleicht sogar neidisch sein auf das, was wir einst errungen hatten? Denn weil wir unsere kostbaren Antibiotika verspielten und sich Bakterien entwickelten, die Ihr nun nicht mehr behandeln könnt, weil sie resistent gegen jedwede menschengemachte Medizin sind, und die hunderte Millionen von Menschenleben kosteten und die Wirtschaftskraft des 21. Jahrhunderts innerhalb von 500 Jahren auf dieselbe des 16. Jahrhunderts zurückschleuderte? Wärst Du neidisch auf uns und wütend zugleich, so würde ich es verstehen und mich schämen.
Wer weiß, Anno, wer weiß? Beide Szenarien sind denkbar: Das eine, in dem Du gütig auf das 21. Jahrhundert zurückblickst, weil Du Dinge weißt, die wir nicht wussten und Du deshalb nachsichtig bist. Aber das andere Szenario, in dem Du hasserfüllt und wütend erkennst, dass wir für Deine Misere verantwortlich sind, weil wir uns mehr nahmen, als uns zustand, ist eben auch denkbar.
Vielleicht habt Ihr, die Menschheit 2520, die Erde auch schon lange verlassen. Und das schöne Lindau, eine Insel im Bodensee, auf der ich das Privileg habe, leben zu dürfen, umgeben von frischem Wasser mit Blick auf Schnee tragende Berge, existiert schon seit 350 Jahren nicht mehr. All die Menschen und all die Häuser, die mich umgeben, sind längst vergangen, verfallen, vergessen. Vielleicht können die Bilder, die ich Dir hinterlassen möchte, eine Vorstellung davon geben, wie das Leben für mich, Deinen 14-fachen Urgroßvater, einmal gewesen ist.
Wie schön und wie schrecklich zugleich.
Ich will Dir nun schreiben, Anno, jede Woche. Ich will Dir schreiben, was ich erlebe, was ich denke, was ich fühle. Damit das nicht verloren geht für Dich. Damit Du und die Historiker Deiner Generation in meinen Briefen lesen können, um vielleicht begreifen zu können, warum die Welt, in der Du lebst, so ist, wie sie ist. Denn wir sind es, die dafür die Verantwortung tragen.
Ich hoffe jedenfalls, dass Du noch gut wirst lesen können, was ich schreibe. Denn in 500 Jahren mag sich die Sprache so sehr verändern, dass meine altbackene und längst nicht mehr gebräuchliche Sprache für Dich so schwierig zu verstehen sein wird, wie es für mich schwierig ist, Altdeutsch zu lesen und zu verstehen.
Lieber Anno, ich freue mich auf unsere Brieffreundschaft. Auch wenn sie sehr einseitig sein wird.
In Zuneigung, Dein Urgroßvater.
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